Blick auf Martinskirchen

Die Erbzehnter


Die Erbzehnter von Martinskirchen/Altbelgern und ihre Nachkommen (von Max Lindau, Altbelgern)

Bei dem Rittergut in Martinskirchen bestand bis zum Jahre 1856 eine Form der Dienstbarkeit von ihm abhängiger Arbeitskräfte, die sich sonst nirgends bei den Großgütern unserer Heimat findet. Während die übrigen Güter seit altersher meist recht umfangreiche Dienste und Abgaben von ihren Dorfuntertanen fordern konnten, waren die Bauern von Martinskirchen nicht in ein dienstpflichtiges Untertanenverhältnis zum Gut geraten, was darauf zurückzuführen ist, daß das Dorf Martinskirchen seit 1272 dem Kloster Mühlberg in einem gewissen Umfang zinspflichtig war.

Um die nötigen Arbeitskräfte dem Gute zu sichern, siedelte es zu einem nicht mehr bekannten Zeitpunkt sogenannte Erbzehnter in kleinen Häuslerstellen an, die zu den erforderlichen Arbeiten beim Gut ihr Leben lang verpflichtet blieben. In Martinskirchen saßen zwölf und in Altbelgern fünf Erbzehnter. Der Zehntnerdienst war erblich. Der Sohn bzw. Schwiegersohn folgte dem Vater. Auf einem Gerichtstage wurde der neue Zehntner vereidigt. Er hatte unter Anrufung des Namens Gottes sich der Herrschaft zu verpflichten. Verstöße gegen das Gelübde wurden als Meineid angesehen und dementsprechend geahndet.

Den Zehntnern stand ein Zehntner-Richter vor. Er genoß bei der Gutsherrschaft eine besondere Vertrauensstellung, hatte genaue Aufsicht zu führen, die Lohnregister über getane Arbeiten aufzustellen und zu berechnen, wie überhaupt von ihm vorbildliches Verhalten in Fleiß, Treue, Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit verlangt wurde. Dementsprechend war auch der Zehntner-Richtereid.

Über die Pflichten und Rechte der Martinskirchener und Altbelgener Erbzehntner geben zwei Arbeitsverträge Auskunft. Den ersten Arbeitsvertrag vom 18. Januar 1684 schloß der derzeitige Besitzer des großen Rittergutes – es bestand daneben noch das kleine Rittergut – Inocensius von Lüttichau mit seinen zwölf Erbzehntnern. Dieser Arbeitsvertrag diente dem Rittergutsbesitzer Hans Georg von Wehlen als Muster für den Vertrag, den er am 23. Juni 1733 mit seinen Zehntnern abschloß.

Die Erbzehntner hatten die Saat-, Ernte- und Ausdruscharbeit zu verrichten. Sie erhielten für den Scheffel Aussaat drei Pfennige, bei der Ernte von Weizen, Korn, Gerste und Heidekorn, Gemenge und Hirse das elfte Schock, von Erbsen und Wicken den elften Scheffel. Den Hafer hatten sie gleichfalls zu „hauen, harken, binden und mandeln und bekamen fürs Hauen und Binden jeder täglich vier Groschen, fürs Harken und Mandeln aber täglich zwei Groschen zum Lohne." Beim Ausdreschen des Hafers bekamen sie gleich dem ersten Getreide den sechzehnten Scheffel, mußten aber der Gutsherrschaft für das ihnen überlassene Haferstroh pro Schock einen Taler und zwölf Groschen bezahlen, wobei sie die Wahl hatten, ob sie das Haferstroh um diesen Preis annehmen oder es der Herrschaft überlassen wollten. Die nötigen Bande mußten die Zehntner machen, ins Wasser tauchen und mit dem Schubkarren aufs Feld fahren, wofür sie nichts bekamen. Konnten die Erbzehntner nebst ihren Weibern die Ernte allein nicht einbringen, so mußten sie auf ihre Kosten soviel Leute als nötig sind, annehmen, „auch im übrigen bei der Ernte nichts verabsäumen.“

Das Getreide, was die Zehntner zu Ihrem Lohne bei der Ernte auf dem Felde bekamen, mußten sie sich selbst in die Zehntscheune schaffen, doch konnten sie sich nach Feierabend eines Zugochsens vom Gute bedienen, auch wurde ihnen, wenn nötig, ein Knecht dazu gegeben. Das ausgedroschene Getreide müssen die Zehntner auf den Boden tragen und, wenn es zur Saat nötig, wieder einsacken und abtragen, ohne Entgelt. Das Ausdreschen des Getreides mit dem Flegel erfolgte von Anfang November bis Ende Februar von morgens, sobald es sich tun läßt, bis in den sinkenden Abend. ,,Zum Morgenbrote sollen sie nicht gehen, weil die Tage kurz sind“. Nach der Saat mußten die Zehntner die Wasserfurchen umsonst ausschippen. Auch für das Breiten des Düngers gab es keinen Lohn.

Die Entlohnung von Wiesenheu in der Heuernte war sehr ungleich. Von manchen Wiesen, die sie ,,umsonst hauen, treuge machen, in Windböcke und Schober setzen mußten", bekamen sie nur den elften Schober vom Grumt, von anderen Wiesen weder Heu noch Grumt, und von der dritten Gruppe von Wiesen den elften Schober von Heu und Grumt, doch hatte die Herrschaft die Wahl, ob sie den Wiesewachs den Zehntnern überlassen oder ihnen dafür den üblichen Lohn geben woIle. Ihr Heu und Grumt mußten sich die Zehntner auf Schiebeböcken einfahren.

AIs Gräsereinutzung waren den Zehntnern 3 Plätze angewiesen: der Vogelberg, die Gräben zu beiden Seiten der Trifft und 1 Stück Damm ,,vom Bärenbruch mitten auf dem Damm bis an die Grenze von AItbelgern." Jeder Zehntner mußte , durch sein Eheweib 12 Hoftage tun und verrichten". Bei Jagden waren die Zehntner zu Treiberdiensten verpflichtet. Der Dünger, den die Zehntner von ihrem Vieh machen, wird vom Hofegeschirre auf das Herrschaftsfeld geführt. ,,Dahin als dann die Zehntner Kraut stecken und Rüben säen mögen." Jede Zehntnerfrau hat der Herrschaft jährlich ein Stück Garn zu spinnen, wofür sie 2 Groschen erhielt. Wurde mehr verlangt, betrug die Bezahlung pro Stück 3 Groschen. Ährenlesen war durchaus verboten. Die Erbzehntner hatten die Scheunen, Stallgebäude und Umzäunungen zu unterhalten.

Neben diesen Pflichten der Erbzehntner und den Gegenleistungenn des Rittergutes bestanden noch Abgaben, die von den Zehntnern für Überlassung der Zehntnerstelle dem Gute zu leisten waren. Jeder Zehntner von Martinskirchen zahlte jährIich 10 Silbergroschen Erbzins, 15 Silbergroschen Grasgeld und 7 Silbergroschen Wachgeld. Ging die Zehntnerstelle auf den Erben über, war 1 Prozent Lehngeld vom Wert der Stelle dem Gut zu zahlen. Ohne Bezahlung zu liefern waren 60 Eier und 2 junge Hühner jährlich.

Die Zehntner in Altbelgern waren geringer belastet und lieferten jeder 60 Eier, 2 junge Hühner, 7 Groschen 6 Pfennige Wachgeld und 2 Groschen Grasgeld. Aber für die ihnen erblich überlassene Gräsereinutzung auf Rittergutsstücken zahlte jeder als Beitrag zu den Grundsteuern des Rittergutes Altbelgern 1 Taler, 5 Groschen. Dagegen hat die Gutsherrschaft zu Martinskirchen den 17 Zehntnern für die Kühe das Samenrind gegen eine ein für allemal feststehende Vergütung von 2 Groschen 6 Pfennige pro Kuh vorzuhalten.

Bei der Auflösung dieses Zehntnerverhältnisses wurden die Pflichten und Rechte gegeneinander aufgerechnet und es ergab sich ein Mehrwert des Zehntes, der vom Rittergut durch Landhergabe an die Erbzehntner abgegolten werden mußte. In Martinskirchen erhielt jeder der 12 Zehntner 3,38 Morgen auf der „Hohen Höhe" und 0,52 Morgen Wiese auf der "Spitzwiese". Jeder der 5 Zehntner in Altbelgern kam in das Eigentum von 3 Morgen Acker hinter den Dreihäusern, 2,15 Morgen Wiese auf dem Elbheger und auf dem Elbdamm. Am 4. November 1856 traten die ehemaIigen Dienstleute in das freie und unbelastete Eigentum ihrer Abfindunsgstücke. Die Bezeichnung des Arbeitsverhältnisses als Erbzehntner gehört seitdem der Vergangenheit an. Während bei der Ablösung der Frondienste für die anderen Güter die bisherigen Untertanen sich durch Geldzahlungen oder Landabtretungen an den Gutsherrn freikaufen mußten (siehe Aufsatz über Theisa im Heimatkalender 1960) ist in MartinsKirchen der Fall zu verzeichnen, daß der Gutsherr bei dem Erlöschen des Dienstverhältnisses seine Erbzehntner mit Land dafür zu entschädigen hatte, weil sie nun nicht mehr den 11. Schober Getreide, den 16. Scheffel des im Winter ausgedroschenen Korns und den 11. Heuschober fordern konnten.

Bereits im Jahre 1835 waren die Erbzehntner von beiden Dörfern, die bisher ,,ohne Land noch Sand" waren, bei der Aufteilung der bis dahin genossenschaftlich genutzten Hutungen der Gemeindeanger in den Besitz von je 1 Morgen Land gekommen. Um 1875 strengten auch die 18 Häusler von Martinskirchen einen Prozeß gegen das Rittergut an. Die Häusler machten gewisse Rechte geltend, die sie gegen die Gutsherrschaft hatten und forderten dafür eine Abfindung. Der Prozeß zog sich 12 Jahre hin und endete mit einer Anerkennung des Anspruches der Kläger. Das Rittergut mußte an jeden Häusler eine Landabfindung von 4,10 ar und eine Geldabfindung von 98,29 Mark leisten.

Die 5 Häusler von Altbelgern hatten nicht den Mut, sich der Klage gegen das Rittergut anzuschließen. Sie waren der Meinung, daß sie bei einen günstigen Ausgang des Martinskirchener Prozesses ohne eigenes Zutun in der gleichen Weise abgefunden werden mußten. Darin hatten sie sich aber geirrt, denn sie gingen leer aus und erfuhren, daß die kleinen Leute im Streit mit dem Gutsherrn ihre Rechte nur dann wahrnehmen konnten, wenn sie selbst hartnäckig für sie eintraten.

Freilich konnten die ehemaligen Erbzehntner und Häusler von den ihnen nun zugefallenen wenigen Morgen Land nicht leben. Sie mußten sich weiter als Arbeiter beim Gut verdingen, denn andere Erwerbsmöglichkeiten gab es in der Umgebung kaum. Das änderte sich aber, als ihre Kinder herangewachsen waren. Für diese kam der Zwang, ihr Brot ausschließlich beim Gutsherrn zu suchen, durch die Erreichbarkeit anderer Verdienstmöglichkeiten immer mehr in Fortfall. Durch das neu aufkommende Fahrrad konnten die jungen Häuslersöhne Arbeit in der Zuckerfabrik Brottewitz und in den Baubetrieben von Mühlberg aufnehmen. Die Mädchen gingen in großstädtische Haushalte, und das Gut Martinskirchen verlor bei dem geringen Reiz seiner Arbeitsbedingungen die Jugend der Dörfer. Außerdem konnten im Laufe der folgenden Jahrzehnte fast aIIe ehemaligen Erbzehntner und kleinen Häusler der beiden Dörfer durch Zukauf von Landstücken aufgeteilter Güter in Altbelgern und Brottewitz, besonders auch von dem Hammerschen Gut in Lehndorf, ihren Besitz so erweitern, daß sie selbständige Ackernahrungen erlangten und ihre Familien aus eigenen Erträgen zu ernähren vermochten.

Um billige Arbeitskräfte zu erlangen, sandten die Rittergüter Werber in die polnischen Gebiete. Es kam zu der jährlichen Wanderbewegung vieer Tausender sogenannter polnischer,,Saisonarbeiter", die im Frühjahr in die , "Schnitterkasernen" der Rittergüter strömten und im Herbst wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Alle großen Güter im Mühlberger Gebiet beschäftigten solche polnischen Wanderarbeiter in großer Zahl. Am Fronleichnamstag kamen diese Frauen, Männer und Kinder auf birkengeschmückten Leiterwagen in ihren farbenfreudigen Trachten nach Liebenwerda und belebten hier das Straßenbild.

Die Bodenreform von 1945 verwandelte das in Volkseigentum übergegangene Rittergut Martinskirchen zunächst in ein Provinzialgut für Vieh- und Pflanzenzucht, bis seine Ländereien schließlich im Jahre 1948 in 56 Siedlerstellen mit 20 Morgen Acker und 4 Morgen Wiese für jede Stelle aufgeteilt wurden.

Doch auch in den Dörfern dieses Elbwinkels stand die Zeit nicht still. Über die schweren Boden der Elbaue begannen in immer größerer Zahl die Traktoren und Maschinen der MT-Station Martinskirchen zu ziehen, die ihren Sitz nun in dem Schloß des ehemaligen Gutsherrn von Martinskirchen hatte. Es wurde sichtbar, daß ein neuer Abschnitt des bäuerlichen Lebens und Wirtschaftens herangereift war. Besonders die auf ehemaligem Gutsland nach 1945 angesiedelten Neubauern erkannten diese Forderungen der Zeit bei ihrem schweren Neuanfang, aber auch die Nachkommen der ehemaligen Erbzehntner verschlossen sich dieser Einsicht nicht, wenn auch noch manche zögerten und manche ihre Vorbehalte hatten. Schon im September 1952 bildete sich in Altenau eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, die sich den Namen ,,Fortschritt" gab. Ihr folgte im Oktober des gleichen Jahres in Martinskirchen die Genossenschaft ,,Vorwärts". Im Juni 1956 hatten die 94 Altenauer Genossenschaftsbauern 752 ha gemeinsam bewirtschaftetes Land unter dem Pflug und als Weide für ihre genossenschaftliche Viehhaltung. In Martinskirchen waren zu dieser Zeit 53 Bauern mit 206 ha Land in der Genossenschaft vereinigt.

Die Zeit, in der Erbzehntner dem Rittergut einen Treueeid schwören, dessen Felder bestellen und in ihrem Leben von dem abhängig waren, was es ihnen als 11. Getreideschober und 16. Kornscheffel überließ, ist längst versunken. Um die seit dem Frühjahr 1960 vollgenossenschaftlichen Dörfer liegen nun weithin gedehnte Ackerund Wiesenschläge als gemeinsames Eigentum aller Bauern – und sie werken nun dort, damit ein reichliches Brot für alle wächst.

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